Ersatzgroßeltern für Migrationskinder
Sich bei der Gute-Nacht-Geschichte an Oma und Opa kuscheln, mit ihnen einen Ausflug in den Tierpark machen, gemeinsam die Geburtstagstorte anschneiden, sie mit Selbstgebasteltem erfreuen – solche unbeschwerten Momente sind nicht allen Kindern beschert. Vor allem jenen nicht, deren Großeltern in der Ferne zu Hause sind.Großeltern in der Ferne sind fremd
Wie sollen diese Jungen und Mädchen unbefangenen Zugang zur älteren Generation finden, erfahren, dass Jung und Alt viel Spaß miteinander und voneinander lernen können? Diese Frage beschäftigte Vilga Karimi, seitdem sie im Sommer 2017 ihre Teilzeit-Erzieherinnen-Ausbildung (TEA) am Ev. Fröbelseminar Kassel begonnen hatte. Als 18-Jährige hatten sie und ihr Mann ihre Heimat Afghanistan verlassen und in Deutschland eine Familie gegründet. Die inzwischen 30-jährige Mutter erlebt selbst, dass für ihre drei Kinder die eigenen Großeltern nahezu fremd sind. Der letzte Besuch in Afghanistan liegt Jahre zurück; geblieben sind als Erinnerung weniger die schönen Momente des Miteinanders, sondern vielmehr grausame Szenen von Krieg, Gewalt und Militäreinsätzen auf den Straßen. „Es ist viel zu gefährlich in die Heimat zurückzugehen. Der Kontakt zu unseren Angehörigen wird in Zukunft nur noch über E-Mail oder Bildtelefon möglich sein wird. Für meine Kinder tut es mir sehr leid, dass ihre Großeltern nur aus der Ferne an ihrem Leben teilnehmen können. “
Generationsübergreifende Begegnungen
Eine Situation, die etliche Kinder betrifft. Das wurde für Vilga Karimi deutlich, als sie Ende Januar ihr Praktikum in der Kita „Finkenherd“ in der Weserstraße begann. Zehn Nationalitäten sind unter den 60 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren vertreten. „Mit den Kindern habe ich über ihre Familien gesprochen. Viele haben erzählt, dass sie Oma und Opa entweder gar nicht persönlich oder nur vom Telefon kennen“, berichtet Vilga Karimi. Der sechsjährige George beispielsweise hat seine Großeltern aus Syrien erst zweimal in seinem Leben gesehen. Die dreijährige Mira mit türkischen Wurzeln sagt, sie habe Angst vor alten Menschen, verstecke sich vor ihnen. Die angehende Erzieherin erinnert sich an ein früheres Praktikum in der Tagespflegeinrichtung für Senioren am Holzmarkt - und das Projekt „Ersatzgroßeltern“ ist geboren. Bei der Kindergartenleitung Sylke Sommer stößt Vilga Karima sofort auf Zustimmung. „Generationsübergreifende Begegnungen für Migrationskinder habe ich konzeptionell schon immer im Blick gehabt, aber im Alltag ist es mit den vorhandenen personellen Ressourcen nicht leicht durchsetzbar. Umso dankbarer bin ich, dass meine Praktikantin mit so viel Engagement und Leidenschaft diesen Einstieg nun geschaffen hat.“
Lieder, Lachen, Lob und Anerkennung
Bevor sich Vilga Karimi mit einer kleinen Gruppe von sechs Kindern aus Syrien, der Türkei und Südafrika kürzlich erstmals auf den Weg zu den benachbarten Senioren in der Tagespflege macht, gingen viele Gespräche mit den Kindern, Bilderbucherzählungen und persönliche Geschichten zum Thema voraus. Die Jungen und Mädchen hatten Lieder und Fingerspiele einstudiert, mit denen sie den alten Menschen Lächeln aufs Gesicht zauberten. Für ihre gemalten Bilder bekamen die Kita-Kinder viel Lob, manches Streicheln über den Kopf, Gummibärchen zum Naschen und Fragen zu ihrem Namen und ihrer Herkunft. Auf dem Heimweg zurück zur Kita sprudeln die Kleinen über ob ihrer Erlebnisse. „Die Senioren waren so nett. Die alte Frau, die neben mir saß, hat sich so sehr über mein Bild gefreut, dass sie es sich im Wohnzimmer aufhängen möchte. So bin ich immer bei ihr“, lacht die sechsjährige Jemila. Im Sommer wollen die Senioren die Kita-Kinder in ihrer Einrichtung besuchen, weitere gemeinsame Aktionen sollen folgen. Und vielleicht bekommt das eine oder andere ausländische Kind auf diese Weise „Ersatzgroßeltern“ in Kassel. (Grit Finauer/16.03.2018)